Beitritt zum Riga Komitee DMP

Riga-Komitee


Für 13 Dattelner Juden war Riga die Endstation


Der Rat hatte beschlossen, dem Riga-Komitee beizutreten, einem Städtebündnis für das Erinnern und Gedenken an die Deportation von Juden. Jetzt wurde die Beitrittsurkunde unterzeichnet.


von Sebastian Balint, Dattelner Morgenpost, 10. November 2021

Regierungspräsidentin Dorothee Feller und Dattelns Bürgermeister André Dora unterzeichnen im großen Sitzungssaal des Rathauses die Beitrittsurkunde zum Riga-Komitee. © Sebastian Balint

Anlässlich des Beitritts der Stadt Datteln zum Riga-Komitee, waren Regierungspräsidentin Dorothee Feller und das ehemalige Bundestagsmitglied der Grünen, Winfried Nachtwei gekommen. Bevor die Beitrittsurkunde für das Städtebündnis unterschrieben wurde, berichtete Winfried Nachtwei über das perfide Vorgehen der Nationalsozialisten bei der Vernichtung jüdischen Lebens in Nazi-Deutschland.

Er berichtete über Paul Salitter, Hauptmann der Schutzpolizei, der im Dezember 1941 eine Liste mit 1007 Strichen darauf anfertigte. Jeder einzelne Strich stehe für einen jüdischen Bürger, aus einer von 40 Gemeinden im Rheinland, erklärte Nachtwei. Unterteilt hatte Salitter die Liste nach Altersgruppen: Säuglinge, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Menschen, die schon im Greisenalter waren, wurden auf dieser Liste erfasst. Für die Meisten von ihnen sollte das den sicheren Tod bedeuten.


​Transport in überfüllten Wagons

Das Ziel der aufgelisteten Juden: Das Ghetto in Riga in Lettland. Der Transport erfolgte mit einem Zug, dessen Wagons völlig überfüllt waren. Die Straßennamen des Rigaer Ghettos lassen aus heutiger Sicht nicht erahnen, welch grausames Leid Menschen dort erleiden mussten. Doch wer in Riga auf der Dortmunder-, der Leipziger- oder der Kölner Straße lebte, der war dem täglichen Terror und den Grausamkeiten der Nazis hilflos ausgeliefert. Die Straßennamen hatten die Nazis gewählt, um nachhalten zu können, aus welcher Stadt die dort untergebrachten Juden ursprünglich kamen.

Die Regeln im Ghetto: knallhart, menschenunwürdig, tödlich. „Unterhaltungen durch einen der Zäune, die die Menschen voneinander trennten, waren verboten. Zuwiderhandlungen wurden mit dem Tode bestraft“, erklärte Winfried Nachtwei. Die Strafe für Tauschgeschäfte? Der Tod. Sogar das Gebären von Kindern wurde mit dem Tode bestraft. 13 Striche auf der Liste Salitters stehen für Menschen aus Datteln. Acht davon für Mitglieder der Familie Löwenberg im Alter zwischen 17 und 63 Jahren.


​Leichen werden zu Knochenmehl verarbeitet

Dann verlas Nachtwei den Bericht eines damals 16-jährigen Augenzeugen, der mit ansehen musste, wie die Nazis die Leichen jüdischer Kinder auf einem Feld stapelten. Er berichtet auch von Massenerschießungen. „Die Menschen mussten dort in Sicht- und Hörweite der Erschießungen auf ihre eigene Erschießung warten“, berichtete Winfried Nachtwei und zeigte ein Bild, auf dem eng beieinander stehende Menschen zu sehen sind. Die hätten sich teilweise auf die toten Körper der zuvor getöteten Familienmitglieder stellen müssen, um wenig später selbst erschossen zu werden. 35.000 Menschen verloren allein im Wald von Bikernieki ihr Leben.

Und die präzise geplante Massentötung der Juden war noch steigerungsfähig. Nachtwei berichtete, dass Kriegsgefangene die Toten verbrennen mussten und die nach der Verbrennung übrig gebliebenen Knochen klein gemahlen wurden. Das dabei gewonnene Knochenmehl sei dann per Befehl im Straßenbau eingesetzt worden. „Damit sollten nicht nur die Spuren vernichtet werden“, erklärte Winfried Nachtwei. Die Erinnerung an diese Menschen, an jüdisches Leben überhaupt sollte vollständig vernichtet werden.


​Szenische Lesung geht unter die Haut

Der Beitrag der Oberstufenschüler des Comenius-Gymnasiums knüpfte an den Bericht von Winfried Nachtwei an. Sie erzählten vom Schicksal der Schneiderin Frida Michelson. Die damals 35-Jährige überlebte das Massaker im Wald von Bikernieki nur, weil sie einen Tag und eine Nacht unter einem Berg Kleider ausharrte. Sie war eine von nur sechs Überlebenden. Den Schülern gelang es eindrucksvoll, die Erinnerungen der Schneiderin in einer szenischen Lesung lebendig werden zu lassen.


Bürgermeister André Dora fiel es sichtbar schwer, nach den bewegenden Vorträgen von Winfried Nachtwei und den Comenius-Schülern zur Tagesordnung überzugehen, um nun im Beisein der Regierungspräsidentin die Beitrittsurkunde zu unterzeichnen. Beide hatten zuvor in ihren Redebeiträgen eindringlich dazu aufgerufen, die Erinnerung an die Opfer des schwärzesten Kapitels der deutschen Geschichte stets aufrechtzuerhalten.


​Schicksal der Opfer darf nie vergessen werden

Vergessen sei zwar eine gute Strategie, um den Alltag nicht von traurigen Gedanken bestimmen zu lassen, sagt Dora. Aber grundsätzlich habe das Vergessen einen entscheidenden Nachteil: „Wenn wir vergessen, können wir aus der Geschichte keine Rückschlüsse mehr ziehen, die uns die Gegenwart erklären können.“ Außerdem, so Dora, sei das Erinnern wichtig, „wenn wir Fehler aus der Vergangenheit nicht wiederholen und aus ihnen lernen möchten“, sagt Dora. „Mit dem Beitritt zum Riga-Komitee möchten wir die Erinnerung daran wachhalten, was auch in unserer Stadt vor ungefähr 80 Jahren passiert ist. Dass Dattelner Jüdinnen und Juden nach Riga deportiert und dort ermordet worden sind. Das darf nicht in Vergessenheit geraten. Niemals!“



Gedenken wurde lange erschwert

Das Schicksal der Menschen aus dem Rigaer Ghetto war über Jahrzehnte kaum bekannt. Zwar habe es Versuche lettischer Juden gegeben, der Toten des Ghettos zu gedenken, berichtet Winfried Nachtwei. Jedoch seien die Gedenkveranstaltungen gezielt durch die lettische Geheimpolizei gestört worden, „etwa indem laute Musik über Lautsprecher abgespielt wurde.“ Erst 1991 fand eine offizielle Gedenkveranstaltung in Lettland statt.

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