Die Erinnerung wachhalten
Eindrücke meiner Reise nach Riga im Juli 2019
von Theodor Beckmann
25.07.2019
Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten, die Verbrechen an den jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen und auch nicht die Namen derer, die verschleppt, gedemütigt und ermordet wurden. In dem Zug, mit dem am 27.01.1942 fast tausend Menschen von Dortmund nach Riga verschleppt wurden, saßen auch 13 Dattelner Juden, 5 Männer und 8 Frauen. Im Rahmen einer Studienreise in die lettische Hauptstadt, die organisiert worden war vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und dem Kolping Bildungswerk Münster, bot sich jetzt dem Vorsitzenden des Plattdeutschen Sprach- und Heimatvereins und Fraktionsvorsitzenden der Wählergemeinschaft Die Grünen, Theodor Beckmann, die Gelegenheit, die Orte zu besuchen, an die die nach Riga deportierten Juden verbracht wurden. Es zog ihn an den Bahnhof Skirotava,wo die Züge aus Deutschlnad entladen wurden, er folgte ihnen in die Straßen des Rigaer Ghettos, wo sie beengt untergebracht wurden, und er gedachte ihrer im Wald der Toten, in Bikernieki, wo mehr als 35.000 Menschen ermordet und verscharrt wurden.
Ein wenig ist es eines seiner Lebensthemen geworden: die Beschäftigung mit dem traurigen Schicksal der Dattelner Juden in der NS-Zeit. Nach dem Besuch der Wanderausstellung „Bikernieki – Der Wald der Toten“, die im Januar 2019 in Datteln zu sehen war und die sich eindrücklich mit der Deportation deutscher Juden nach Riga sowie ihrer Ermordung beschäftigt, wächst bei Theo Beckmann das Bestreben, das Gedenken daran im kollektiven Gedächtnis der Stadt langfristig noch stärker zu verankern. Er entschließt sich, sich vor Ort in Riga über das schreckliche Geschehen dort und die heutige Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit des Riga-Komitees zu informieren. Dort erfährt er, dass sich das Komitee nicht nur an die getöteten deutschen Juden erinnert, sondern sich in seiner Arbeit auch den mehr als 26.000 lettischen jüdischen Opfern des Rigaer Ghettos verbunden fühlt, die im Wald von Rumbula in Riga ermordet wurden. Jetzt hofft er, dass über diesen Teil der Geschichte kein weiteres Gras wächst. Sein Ziel ist es, dieses Kapitel unserer Geschichte auch weiterhin einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und so eine Brücke der Erinnerungen über die Generationen zu schlagen.
Das einstige Judentum in Datteln hat eine lange Geschichte. Seit 1814 gab es jüdische Familien in Dattelln. Als Heimatforscher und Buchautor hat Theodor Beckmann bereits anlässlich der 50. Wiederkehr der Reichspogromnacht von 1938 die Dokumentation „Juden in Datteln“ erstellt (Herausgeber: VHS der Stadt Datteln, 1988). Als die Polizeibehörden im Kreis Recklinghausen im Januar 1942 begannen, diejenigen jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen zu verschleppen, die nicht mehr durch eigene Flucht und das Asyl in einem aufnahmebereiten Land entkommen waren, wurde für sie Riga der Ort, der ihr Leben besiegeln sollte. Unter ihnen befanden sich allein acht Mitglieder der Familie Löwenberg, von denen niemand diese Stationen des Leidens überlebt hat.
Gedenkstätte Bikernieki
Einer der besonders beeindruckenden Orte der Stadt Riga ist der Wald der Toten in Bikernieki. Während der deutschen Besatzung befand sich hier zwischen 1941 und 1944 der zentrale Erschießungsort der SS in Lettland. An der Bikernieki Straße informieren zwei Steintafeln in vier Sprachen:
"Hier im Wald von Bikernieki wurden in den Jahren 1941-1944 durch das NS-Regime und dessen freiwillige Helfer tausende Juden aus Lettland, Deutschland., Österreich und Tschechien sowie politisch Verfolgte und sowjetische Kriegsgefangene ermordet."
Der Wald ist frei zugänglich, im Zentrum der Anlage weist seit 2001 ein Mahnmal auf die Geschehnisse hin. Etwa 5000 Stelen aus ukrainischem Granit in grober Struktur und unterschiedlicher Größe und Farbe erinnern an das Geschehen. Auf den Seiten des Gedenksteins steht auf Hebräisch, Russisch, Lettisch und Deutsch:
„ACH ERDE, BEDECKE MEIN BLUT NICHT, UND MEIN SCHREIEN FINDE KEINE RUHESTATT!“ - (Hiob 16,18)
Das Grauen verfolgt einen dort auf Schritt und Tritt. Wer in diesem Waldstück gewesen ist, muss von diesen unzähligen Massengräbern berührt werden. Wie fanatisch-grausam haben die deutsche Sicherheitspolizei und ihre lettischen Helfer sein können, die hier – nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt - in wenigen Wochen mehrere zehntausend Menschen erschossen haben? Ein Aufenthalt dort wird zu einem traurigen und bedrückenden Erlebnis besonders für uns Vertreter der friedensverwöhnten Nachkriegsgenerationen. Nach der Erkundung des Waldgeländes versammelte sich die Reisegruppe am zentralen Gedenkplatz und erinnerte an die Verbrechen des Holocaust - im speziellen Gedenken an das Leid der an diesem Ort ermordeten tausenden Menschen, so auch an das Schicksal der 13 Dattelner Juden, die nach Riga verschleppt worden sind.
Das ehemalige Rigaer Ghetto
Ein zwiespältiges Gefühl beschleicht den deutschen Besucher der Moskauer Vorstadt. Noch ist hier der Sanierungs- und Tourismusboom, der Rigas Altstadt längst umgekrempelt hat, nicht angekommen. Nur selten verirren sich Fremde in diese Gegend. Südwestlich der Rigaer Altstadt erstreckte sich das ehemalige jüdische Ghetto. Auch wenn zwischen den heruntergekommenen vier- und fünfstöckigen Mietshäusern der Gründerzeit und den einfachen, verwitterten noch älteren Holzbauten die Zeit stillzustehen scheint, sind die Straßen belebt: Busse und Autos rollen, wie überall in der Stadt, über brüchiges Kopfsteinplaster, die Menschen, die hier wohnen, gehen zur Arbeit, zum Einkaufen, zur Schule.
Während des Zweiten Weltkriegs pferchten die Nazis hier Juden aus Lettland, den anderen baltischen Ländern und aus Westeuropa zusammen, um sie dann in die Vernichtungslager zu deportieren. Allein aus Deutschland verschleppten die Besatzer 25.000 Jüdinnen und Juden ins Rigaer Ghetto. Im Dortmunder Zug, einem der letzten Deportationszüge nach Riga, mit dem am 01.02.1942 fast tausend Menschen im Ghetto ankamen, saßen auch 13 Dattelner Juden. Überlebt haben nur wenige. Auch wenn in den Straßen selbst wenig an die Zeit des Ghettos erinnert, sieht doch vieles noch so aus wie 1941, als das Gebiet für Tausende Juden zum Todeslager wurde.
Auch wenn dieses unscheinbare Viertel heute das einzige fast komplett erhaltene jüdische Ghetto Europas ist, so erweist sich die schon traditionell besonders ärmliche Moskauer Vorstadt immer mehr ein Viertel des Verfalls. Etliche Gebäude sind völlig runtergekommen, eine ganze Reihe von Holzhäusern (z.B. in der „Düsseldorfer Str") sind verschwunden. Nur ganz vereinzelt ist Neues entstanden: in der „Bielefeder Straße“ sind in der Sowjetzeit mehrere Häuser mit Mietwohnungen entstanden, ebenso das DODO-Hotel an der Daugavpils/Jersikas iela, der kleine Marktplatz an der Maskavas/Maza Kalna iela und neuerdings ein Geschäft (KIWI DIWI) am ehemaligen Blechplatz, dem Versammlungsplatz im ehemaligen Ghetto.
Der Alte Jüdische Friedhof
Am Rande des ehemaligen Ghettos lag der alte Jüdische Friedhof. Seit 1725 wurden hier Tote begraben. Am Eingang befanden sich einige Holzgebäude für das Bet- und Totenhaus und für die Friedhofsbeschäftigten. 1903 entstand ein schönes Gebäude für die Trauerfeierlichkeiten. Am 4. Juli 1941 wurden allle diese Gebäude niedergebrannt, in ihnen die Friedhofsangestellten mit ihren Familien sowie in der Umgebung ergriffene Juden, insgesamt etwa 50 Menschen. Nach dem Krieg wurde der Friedhof eingeebnet und im Jahre 1960 „Park der kommunistischen Brigaden" genannt. Seit 1990 heißt der Park wieder „Alter Jüdischer Friedhof". Am 12. Juli 1994 konnte an der Südseite ein Gedenkstein (Feldblock mit Davidsstern) eingeweiht werden. Ermöglicht wurde das durch unsere Spendensammlung in Deutschland.
Beitritt der Stadt Datteln zum Deutschen Riga-Komitee
Aus verschiedenen Städten des Großdeutschen Reiches wurden im Winter 1941/42 jüdische Menschen nach Lettland deportiert, aus Berlin, München, Frankfurt, Wien, Breslau, Nürnberg, Stuttgart, Hamburg, Köln, Kassel, Düsseldorf, Münster/Osnabrück/Bielefeld, Hannover, Leipzig/Dresden und Dortmund. Deshalb taucht der Name „RIGA“ in den Akten vieler deutscher Städte auf, hinter mehr als 25.000 Namen steht als Sterbeort „RIGA“. Und genau deshalb haben im Jahre 2000 Vertreter aus 18 Städten, aus denen Menschen nach Riga verschleppt wurden, ein Komitee gegründet, das RIGA-KOMITEE, um den Opfern des Holocaust zu gedenken, um an das Schicksal von über 25.000 deutschen Juden zu erinnern, die in den Jahren 1941/42 nach Riga deportiert und in ihrer überwiegenden Zahl im Wald von Bikernieki ermordet wurden.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge errichtete mit seiner lettischen Partnerorganisation, dem Brüderfriedhöfekomitee, und der Stadtverwaltung Riga den Opfern eine würdige Gräber- und Gedenkstätte. Der Zentralrat der Juden in Deutschland, die Stadtverwaltung Riga sowie die in Wien bereits noch im vorigen Jahrhundert gegründete „Initiative Riga“ unterstützten das Projekt. Die Anlage im Wald von Bikernieki wurde am 30. November 2001, 60 Jahre nach Beginn der Deportationen aus Deutschland, eingeweiht. Mit der Pflege der Anlage durch lettische und deutsche Jugendliche werden die Erinnerung und die Begegnung zwischen Riga und den deutschen Städten gepflegt, von denen die Sammeltransporte ausgingen.
Seit der Gründung des Riga-Komitees im Jahr 2000 traten weitere 38 deutsche Städte dem Komitee bei und engagieren sich bei der Aufarbeitung der Deportationen aus ihren Städten. Derzeit zählt das Komitee 56 Städte zu seinen Mitgliedern. Es ist an der Zeit für Datteln, das Projekt ebenfalls zu unterstützen.
Als Komiteemitglied erhält die Stadt Datteln auf der Gedenkstätte Riga-Bikernieki einen mit dem Namen der Stadt versehenen Gedenkstein sowie im Internet auf der Homepage www.riga-komitee.de in der Rubrik "Städteliste" eine Unterseite eingerichtet, auf der den Mitgliedsstädten die Möglichkeit eingeräumt wird, über ihre Aktivitäten im Rahmen des Riga-Komitees zu berichten. Zudem wird eine Mitgliedsurkunde – vorab vom Präsidenten des Volksbundes unterzeichnet – und durch Vertretung an das Stadtoberhaupt bei einem abgestimmten öffentlichen Unterzeichnungstermin überreicht. Mit dem Beitritt zum Deutschen Riga-Komitee verpflichtet sich die Stadt Datteln, einen einmaligen finanziellen Beitrag von 2.000 EUR für den Erhalt und die Pflege der Gräber- und Gedenkstätte Riga-Bikernieki zu leisten.
Als erster Schritt auf dem Wege zur Mitgliedschaft sollte deshalb im Haushalt der Stadt 2020 ein Betrag von 2.000 EUR eingestellt werden, so dass der beim Beitritt fällige einmalige Betrag verausgabt werden kann.
Weblink:
https://www.volksbund.de/fileadmin/redaktion/Mediathek/Informationsmaterial/FB-Riga-Komitee_Online.pdf
Ein weiterer Bericht über alle Aspekte der umfassend gestalteten Reise findet sich hier: